Wie aus einem Einspracheentscheid eine einlässlich begründete Verfügung wird – oder die Grenzen des Ermessens im horizontalen Gewerbe

Seit Inkrafttreten des Mehrwertsteuergesetzes (MWSTG) 2010 schliesst die Eidgenössische Steuerverwaltung (ESTV) ihre Kontrollen bei den Steuerpflichtigen mit einer als Verfügung ausgestalteten Einschätzungsmitteilung ab. Damit beginnt die 30-tägige Frist für die Einsprache.

Das Vorgehen der ESTV ist heftig kritisiert worden. Der Gesetzgeber habe nicht vorgesehen, dass die Kontrolle mit einer Verfügung abgeschlossen wird, so die Meinung der Kritiker.

Dieser Kritik ist das Bundesverwaltungsgericht (BVGer) in einem neueren Entscheid gefolgt (A-707/2013 vom 25. Juli 2013). Eine Einschätzungsmitteilung darf nach Auffassung des BVGer nicht mit einer Verfügung gemäss Art. 5 VwVG abgeschlossen werden.

Dieses Urteil ist zwar noch nicht rechtskräftig; die ESTV hat den Entscheid an das Bundesgericht (BGer) weitergezogen. Aber in der Zwischenzeit muss sich das BVGer an seine neue Rechtsprechung halten. So hat es in einem neuesten Entscheid (A-6198/2012 vom 3. September 2013) aus einem Einspracheentscheid der ESTV eine einlässlich begründete Verfügung gemacht, auf die sie im Sinne einer Sprungbeschwerde eintreten konnte.

Wird das Urteil des BVGer durch das BGer bestätigt, so wird die ESTV ihre Vorgehensweise anpassen müssen. Aber auch der Steuerpflichtige wird bei der Bezahlung der Forderung der ESTV wieder einen Vorbehalt anbringen müssen, wenn er nicht Gefahr laufen will, dass die Forderung gemäss Art. 43 MWSTG durch vorbehaltlose Bezahlung rechtskräftig wird.

Das Urteil vom 3. September ist aber auch Anschauungsunterricht zur Ermessenseinschätzung. Es ging im Verfahren – einmal mehr – um die Frage der Selbständigkeit von Sexarbeiterinnen in einem Sauna-Club. Das Gericht kam – in Fortführung ihrer gefestigten Praxis – zum Schluss, dass die Selbständigkeit zu verneinen ist. So stellte sich die Frage nach der Höhe des Umsatzes, der dem Betreiber des Sauna-Clubs zuzurechnen war.

Da das BVGer in einem früheren Entscheid 2008 festgestellt hat, dass „ein Ansatz von Fr. 115.- netto als Durchschnittswert pro Kunde „im unteren Rahmen“ der Preise für erotische Dienstleistungen liege“, hat die ESTV den Ansatz auf CHF 150.- erhöht. Diese Erhöhung um rund 30% akzeptierte das BVGer nicht und wies den Entscheid zur neuen Beurteilung an die ESTV zurück. Die ESTV wird eine neue Schätzung der Einnahmen aus den erotischen Dienstleistungen nach pflichtgemässem Ermessen vornehmen müssen.

Der Saunabetreiber hat zwar in einem ersten Schritt obsiegt; die ESTV wird aber wohl alles daran setzen, den Ansatz von CHF 150.- zu stützen oder allenfalls sogar einen höheren Ansatz  zu rechtfertigen. Der „Schuss“ kann also durchaus noch nach hinten raus gehen.

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